Wahrheit und Politik – passt das zusammen?

Autorin Dr. Barbara Strohein: Beiratsmitglied von Glocalist, Philosophin, Autorin (u.a. Suhrkamp) und Expertin in Ethik, Werte und soziale Innovation. Zahlreiche Wissenschaftsprojekte.

Ein heißes Thema: Die Frage, auf welche Informationen sich die Öffentlichkeit verlassen kann und auf welche nicht, ist nicht nur seit kurzem hochaktuell. Sie hängt mit weiteren Fragen zusammen: Wem kann man aufgrund welche Tatsachen glauben und wem nicht? Welche Meinungen sind politisch ernst zu nehmen und welche nicht? Spielt Ethik in der Vermittlung von Informationen einen Rolle und wenn welche? Wie werden Fakten vermittelt, so dass sie auch akzeptiert und ernst genommen werden?

Gibt es Wahrheiten, über die man sich nicht mehr streiten sollte aufgrund ihrer Evidenz?

All diese Fragen betreffen nicht nur den Journalismus, sondern ebenso die Politik wie die Wissenschaft – in Bezug auf deren Relevanz für die Gesellschaft. Nicht nur lokal, sondern global. Denn auf Informationen baut unsere moderne Welt auf. Informationen sind nicht nur Auslöser von Gefühlen, sondern werden zur Grundlage von politischen Entscheidungen, zur Meinungsbildung in der Demokratie und zur Umsetzung und dem Einsatz von Technologien.

Ganz konkret erleben wir diese Wirkmechanismen in der Klimadebatte, in der Flüchtlingsfrage, im Umgang mit der künstlichen Intelligenz und dem Verwerten von Wissenschaft. Fragen wir auch ex negativo: Wie sähe eine Welt in Zukunft aus, in der Fake News statt Fakten wirken, in der der Wahrheitsbegriff ad absurdum geführt wird und Meinungen allein für bare Münze genommen werden?

Sagen Politiker die Wahrheit?

Wahrheit und Politik – wie passt das zusammen? In der pluralistischen Gesellschaft heute wird über weite Strecken selbstverständlich davon ausgegangen, es gäbe keine Wahrheiten mehr. Alles sei relativ. Außerdem können sich viele Bürgerinnen und Bürger nicht mehr vorstellen, dass in der Politik die Wahrheit gesagt wird.

Nun ließe sich schlussfolgern: Wenn es keine Wahrheit gibt, dann bräuchte sich die Politik ja auch gar nicht darum zu kümmern. Wenn jedoch der Fall eintritt, wie Donald Trump betreffend, dass ein Politiker nicht die Wahrheit sagt, ist der Teufel los. Oder aber auch nicht. Weil vieles, was in der Politik behauptet wird, sich in einem Feld der Unüberprüfbarkeit bewegt.

Viele Aussagen beschränken sich auf mehr oder weniger schnell vergessene Absichtserklärungen. Das mag vielleicht vor allem aus der Sicht eines investigativen Journalismus überzogen klingen. Es ist es aber sicher nicht in Bezug auf die Möglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger, politische Aussagen konsequent und gründlich auf ihre Wahrheit, Faktizität und Meinungshintergründe kritisch zu hinterfragen: Wo sind die Fakten? Wer sagt, was wirklich gesehen oder der Fall ist? Auf welche Geschehnisse beziehen sich welche Aussagen? Inwiefern sind diese Aussagen Tatsachenbeschreibungen oder vor allem Interpretationen? Wer lügt aus welchen Gründen und in welchem Fall warum?

Dieser Frage folgt eine logische weitere: Was konstituiert die Wahrheit? Eine massenhaft vertretene Meinung? Fakten, über deren Interpretation man sich streiten kann? Weil diese Fragen in der heutigen Pluralität und vermeintlichen Meinungsfreiheit entweder nicht mehr relevant erscheinen oder die politische Öffentlichkeit gleich welcher Couleur, sich daran zu gewöhnen scheint, dass es in der Politik weder auf die Wahrheit, noch auf Fakten – sondern vor allem auf Meinungen, bzw. Meinungsmache – ankommt, stehen diese Fragen nicht im Vordergrund.

Diese Fragen aber würden, wären sie im Fokus politischer Debatten, innovative Antworten hervorbringen, die für das vertrauenschaffende Verhältnis zwischen Politik, Journalismus und der Zivilbevölkerung entscheidend sein könnten.

Denn was soll – wenn man das mal so fragen darf – aus einer Gesellschaft werden, die weder der Wahrheit, den Fakten, noch der Politik über den Weg traut und auf Meinungen baut, die mit Wissen und Wahrheit wenig zu tun haben? Worauf – bitte – vertraut sie dann?

Die Analyse als Provokation

»Wahrheit und Politik« ist die Überschrift eines Essays von Hannah Ahrendt, die von 1906 bis 1975 lebte. Warum hat sich die streitbare Philosophin jüdischer Herkunft mit »Wahrheit und Politik« auseinandergesetzt? In diesem Essay, erstmals erschienen 1963, reagierte sie auf die heftigen Kontroversen und schlimmen persönlichen Beleidigungen, die ihre Berichterstattung über den Eichmann-Prozess in Jerusalem auslöste.

Sie analysierte aus einer philosophischen Vernunftsperspektive das, was sie sah und was niemand sehen wollte: Eichmann, ein Rädchen im Getriebe des menschenzerstörenden Systems der Nazis, erwies sich nicht als Monster des Bösen, sondern als stinknormaler, ziemlich dummer Vollzieher von Befehlen. Das war eine Wahrheit – aus ihrer Perspektive. Sie berichtete außerdem über das Faktum, dass die Judenräte, eine im Nationalsozialismus eingerichtete Zwangskörperschaft, den Nazis Informationen für die Verfolgung von Juden in die Hand gespielt hatten. Das war eine unbestrittene Tatsache – unabhängig von irgendwelchen Meinungen oder gar ihrer persönlichen Ansicht.

Der Anlass für diesen Skandal war, man kann es kaum glauben, philosophische Vernunft und bewiesene Tatsachen. Das ließ tief blicken und Hannah Ahrendt fragen, wie Politik und Wahrheit zusammenhängen. »Das erste betrifft die Frage«, schreibt sie zu Beginn ihres Beitrages, »ob es stets richtig ist, die Wahrheit zu sagen. Das zweite ergab sich aus der erstaunlichen Zahl an Lügen, von denen in der ‚Kontroverse‘ Gebrauch gemacht wurde – Lügen einerseits über das, was ich geschrieben, und andererseits über die Tatsachen, die ich berichtet hatte.«

Hannah Ahrendt hatte drei übliche Denkweisen radikal in Frage gestellt:

  1. Böse Taten werden immer von bösen Menschen aus selbstsüchtigen Motiven verübt.
  2. Die Juden sind ausschließlich Opfer.
  3. Bösartigkeit ist ein gezielter intelligenter Akt.

Eichmann war aus ihrer Sicht kein dämonisches Monstrum, das aus Hass und Eigennutz handelte. Er war gewissenlos – aus Gedankenlosigkeit. Er hatte aufgehört, zu denken. Das Denken aber ist die Voraussetzung für Moral und Ethik. Denken heißt für Ahrendt: Wenn ich über mich nachdenke, bin ich im Gespräch mit mir. Ich nehme Distanz zu mir und der Welt ein und frage mich, was darf ich tun und was nicht, entsprechend meines Gewissens. Wer diesen Denkprozess ausschaltet, wird zum Befehlsempfänger jedwedes Systems.

Das gilt generell und bis heute: wer nicht selbst nachdenkt, sich an seinem eigenen Gewissen und moralischen Maßstäben orientiert, die auch übergreifende moralische Maßstäbe sind, ist manipulierbar, ohne es zu merken. Denken gehört zum Menschen. Und wenn Menschen damit aufhören, entmenschlichen sie sich und haben ihr Gewissen außer Kraft gesetzt.

Denkverbote und Entmenschlichung

Das Terrorsystem des Nationalsozialismus hat nicht nur die Opfer entmenschlicht, sondern Menschen hervorgebracht, die als Täter entmenschlicht waren – wie Eichmann und viele andere. Hannah Ahrendt sah sehr klar, dass die Shoa nicht nur ein Verbrechen an den Juden war, sondern auch an der gesamten Menschheit. Und die mit den Nazis kooperierenden Judenräte hatten sich in den Sog dieser Gewissenlosigkeit hineinziehen lassen.

Diese Tatsache auszusprechen, war nicht nur für viele Juden weltweit ein Schlag ins Gesicht. Ahrendt wurde beschuldigt, mit ihrer Analyse von der Banalität des Bösen den Verbrecher Eichmann zu »entschuldigen« und durch den Bericht über die Rolle der Judenräte einen Verrat an ihrem Volk zu begehen. Das aber lag ihr völlig fern. Sie wollte die Ungeheuerlichkeiten verstehen, die geschehen waren.

In dieser Kontroverse wurde die Möglichkeit sichtbar, dass Wahrheiten nicht ausgesprochen werden dürfen und Tatsachen nicht akzeptiert werden. Die öffentliche Meinung stand im krassen Gegensatz zu Wahrheiten und Fakten. Denkverbote wurden ausgesprochen. Sie werden dann akut, wenn jemand es wagt, scheinbar Selbstverständliches in Frage zu stellen. Das ist ein politisches Problem, das bis heute zur Disposition steht – der vom Westen hochgehaltenen Meinungsfreiheit zum Trotz.

Politik als gesellschaftsbildender Faktor ist, so gesehen, kein vernachlässigbares Thema oder eine Feierabendbeschäftigung. Jeder Bürger ist von politischen Entscheidungen und der öffentlichen Meinungsbildung betroffen. Was aber tun mit einer Politik und einer Öffentlichkeit, die unter bestimmten Bedingungen Wahrheiten und Fakten nicht wahrhaben will?

Der aufrechte Gang der Philosophen

Wer über Wahrheit in Verbindung mit Politik spricht, geht zwei Risiken ein: wirkungslos zu sein oder für anmaßend gehalten zu werden. Durch das Zusammenbringen dieser beiden Begriffe kommt sofort eine Meta-Ebene ins Spiel, ein Blick von oben: reale politische Vorgänge werden auf ihren Wahrheitsgehalt analytisch und kritisch beurteilt. Das ist eine philosophische Blickweise, die selten genug eingenommen wird, nicht einmal im investigativen Journalismus. Denn diesem fehlen Unabhängigkeit und philosophisches Wissen.

Diese Bemerkung hat nichts mit Journalismus-Schelte zu tun, sondern mit den einfachen Tatsachen, dass jeder Journalist einen Auftraggeber hat und die Auseinandersetzung mit philosophischen Wahrheitsbegriffen grundsätzlicher Art nicht selbstverständlich zum journalistischen Handwerk gehört und dass in der tagesaktuellen Berichterstattung für das Berücksichtigen solcher Aspekte Zeit und Raum fehlt.

Dieser Ahrendtsche Blick »von oben« oder »von außen« ist jedoch notwendig, um größere Zusammenhänge zu erkennen, an die menschlichen Dimensionen unserer Existenz zu erinnern, zum Nachdenken aufzufordern und Gegebenes nicht einfach willenlos und kritiklos hinzunehmen.

Hannah Ahrendt rollt die Wahrheitsfrage im Verhältnis zur Politik geistesgeschichtlich auf und greift dabei auf Platon, Sokrates, Hobbes, Leibniz und andere Philosophen zurück. Sie beginnt mit folgender Feststellung: »Niemand hat je bezweifelt, dass es um die Wahrheit in der Politik schlecht bestellt ist, niemand hat je die Wahrhaftigkeit zu den politischen Tugenden gerechnet. Lügen scheint zum Handwerk nicht nur der Demagogen, sondern auch des Politikers und sogar des Staatsmannes zu gehören. Ein bemerkenswerter und beunruhigender Tatbestand. Was bedeutet er für das Wesen und die Würde des politischen Bereichs einerseits, was für das Wesen und die Würde von Wahrheit und Wahrhaftigkeit andererseits? Sollte etwa Ohnmacht zum Wesen der Wahrheit gehören und Betrug im Wesen der Sache liegen, die wir Macht nennen?«

Sie selbst bezeichnet diese Fragen als »unbequem«. Dass diese Fragen so unbequem und zudem zeitaufwendig und mühsam zu beantworten wären, erklärt gewissermaßen auch die weitverbreitete Politikmüdigkeit. Es scheint zu anstrengend und nicht der Mühe wert zu sein, sich mit diesen Fragen zu befassen. Vor allem, was bringt´s? Ein Argument, was immer wieder zu hören ist: »Das, was die da oben machen, hat mit uns doch gar nichts mehr zu tun. Warum sollen wir uns damit also noch befassen.«

Was aber, wenn diese Meinungen und Haltungen um sich greifen? Am Beispiel der Klimapolitik und Klimaforschung läßt sich gut zeigen, wie dieses öffentlich vermittelte Durcheinander von Fakten, Wahrheiten und Meinungen zu einer Einstellung vieler Bürgerinnen und Bürger führen, die sich aus Angst, Abwehr, Desinteresse und mangelndem Wissen zusammensetzt. Leider sind die statistisch fundierten Aussagen, 94% der Bevölkerung sind der Meinung, dass der Klimawandel stattfindet und wahrscheinlich auch menschengemacht ist, kein Gegenargument.

Wir haben in einer qualitativen Untersuchung viele Hinweise gefunden, aus denen deutlich wird: die weltweit wissenschaftlich anerkannten und unbestrittenen Ergebnisse aus der Klimaforschung sind entweder nicht allgemein bekannt oder werden im Klimastreit zumeist nicht akzeptiert. Die Meinungen über den Klimawandel sind zumeist nicht wissensbasiert, sondern mit Zweifeln an der Wissenschaft (wer hat denn nun recht, wem kann ich glauben?), an den klima- und umweltpolitischen Klimaschutzmaßnahmen und an einem wirklichen politischen Willen gespeist. (Vgl. dazu die Studie »Argumentationsmuster in der Klimadebatte«, D. Flader, B.Strohschein, 2018 DBU)

Was ist Wahrheit?

Der Begriff Wahrheit impliziert, dass etwas nur so und nicht anders ist. Wer eine Wahrheit sieht und ausspricht, stellt einen Allgemeingültigkeitsanspruch. Dieser Anspruch kann sich einerseits auf vernunftbegründete Einsichten oder auf nackte Tatsachen berufen, jenseits einer persönlichen Einschätzung. Das ist der Ausgangsgedanke für Ahrendts Unterscheidung zwischen Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten – im Rückgriff auf den Philosophen Leibniz.

Vernunftwahrheiten sind unumstößlich. Dass eins und eins zwei ist, würde niemand je bezweifeln. Mathematische Axiome, philosophische Aussagen und Theorien gehören zu diesen Vernunftwahrheiten. Natürlich lösen diese Wahrheiten unterschiedliche Wirkungen aus. Kein Staatsmann käme auf die Idee, ein mathematisches Lehrbuch verbrennen zu lassen. Jedoch ist es mehr als einmal vorgekommen, dass ein Philosoph zu Tode kam, den sozialen Tod oder zu Lebzeiten Missachtung erlitt, weil er unliebsame Wahrheiten verkündet hatte: Wie zum Beispiel Sokrates und Galilei – oder in der Neuzeit: Nietzsche und Schopenhauer. Frauen tauchen in diesem Reigen der Ablehnung nicht auf – bis auf Hannah Ahrendt selbst. Sie hat mit ihrem Bericht über Eichmann eine Welle der weltweiten Empörung ausgelöst. Ihr Beitrag »Wahrheit und Politik« ist eine Reaktion darauf.

Heute hat sich die Lage einerseits entspannt, andererseits verschärft: Wer heute etwas sagt, was nicht dem common sense entspricht, wird einfach nicht zur Kenntnis genommen. Ein Indiz dafür, wie wenig heute originelle Denker oder Wissenschaftler mit neuen Erkenntnissen geschätzt werden und wie geistlos der öffentliche Diskurs geworden ist. Statt Angriff – ab in die Versenkung, Wahrheitssuche – ade.

Nur wer wissenschaftlich weltweit anerkannt ist, sich medial zu behaupten versteht, sich politisch positioniert und damit bestimmte konventionelle Grenzen eines Wissenschaftsverständnis der Neutralität überschreitet, hat eine Chance, gehört und gesehen zu werden. Aber genau das wird den publikums- und politwirksamen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch dann zum Vorwurf gemacht: sie bleiben nicht in ihrem Fach, sondern mischen sich ein!

Ist das vernünftig, notwendig oder nicht, dass die Vordenker und Mahner ihre Vernunft an den Mann bringen – oder verlieren sie dadurch ihre Unabhängigkeit, weil sie dann zu viele Rücksichten nehmen müssen? Die Trennung von Erkenntnis und Politik, von wissenschaftlicher Innovation und Publicity – ist sie heute noch vertretbar?

Vernunftwahrheiten sind nach Ahrendt vernunftgesteuerte Aussagen über die Menschen und die Wirklichkeit, die in der Tradition der Philosophie und Wissenschaft weitergedacht werden. Dieses Weiterdenken hat in einem Freiheitsraum stattzufinden, unabhängig und unbeeinflusst von den jeweiligen Machtverhältnissen und Machtinhabern. Jede Einengung und jedes Dirigieren verdirbt die Erkenntnis. Irrtümer eingeschlossen: Denker müssen, um der Wahrheit willen, unbestechlich bleiben. Und Erkenntnisse dürfen nicht als Mittel zur Macht missbraucht werden.

Vernunftwahrheiten berufen sich auf etwas, was nicht zu ändern und deshalb zu akzeptieren ist. Sie entstehen durch eine kritische, beobachtende Distanz, gegenüber dem eigenen Denken und der Wirklichkeit. Denn wer sich selbst nicht erkennt und seine Ansichten mit der Wirklichkeit verwechselt, sieht die Realität nicht mehr. Eine solche Vernunftwahrheit ist der Sokratische Satz: »Es ist besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun.« Sokrates akzeptiert die Rechtssprechung und distanziert sich damit von einem Selbsterhaltungsanspruch.

Vernunftwahrheiten sind Sache der Denker. Politiker hingegen – so Hannah Ahrendt – hätten nicht das Recht, Vernunftwahrheiten – womöglich noch aus eigener Tasche – zu verkünden. Sie handeln per se immer praktisch »im Interesse von…« und nicht um einer übergeordneten Wahrheit willen. Wenn dieser Fall eintritt, muss man um sein Leben bangen. Denn im Namen einer »höheren Wahrheit« wird das Tausendjährige Reich oder die klassenlose Gesellschaft ausgerufen, und Millionen von Menschen werden für diese »Wahrheit« geopfert. Die Tatsachenwahrheiten hingegen, so Ahrendt, bezögen sich auf Ereignisse und Fakten.

Ich bringe Beispiele: »1914 marschierten die Deutschen in Belgien ein, unter Missachtung der Neutralität dieses Staates.« »Zwischen Januar und Juli 2016 zählte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bislang 479.620 Erst- und Folgeanträge auf Asyl.« »1938 wurde Adolf Hitler vom Time Magazin zum Mann des Jahres gewählt.« Man würde nun zunächst nicht vermuten, dass Tatsachenwahrheiten weit eher aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden als Vernunftwahrheiten. Ahrendt schreibt: »Fakten und Ereignisse sind unendlich viel gefährdeter, als was immer der menschliche Geist entdecken und erinnern kann.«

Fakten würden geleugnet, vergessen oder zum Verschwinden gebracht. Vernunftwahrheiten hingegen blieben als philosophische oder wissenschaftliche Ideen im Laufe der Geschichte immer irgendwie erhalten. Tatsachenwahrheiten, wie gesagt, keineswegs. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Wahrheiten setzt einen Maßstab, um das nächste Problem – entlang der Ahrendtschen Denkweisen – ins Visier zu nehmen: Die Lüge!

Was sind Lügen?

In Bezug auf die Vernunftwahrheiten gibt es genau genommen keine Lügen. Ein Philosoph oder Wissenschaftler kann sich irren. Man kann wissenschaftliche Erkenntnisse deuten und missdeuten. Deutungen sind jedoch keine Lügen. Was wäre denn auch die Basis, auf Grund derer man behaupten könnte, Sokrates lügt, wenn er sagt: Unrecht soll lieber erlitten als begangen werden? Man kann nur anderer Ansicht sein.

Die Lügen betreffen die Tatsachenwahrheiten. Gelogen wird, indem eine Tatsache falsch dargestellt wird, und zwar aus den unterschiedlichsten Motiven: um sich rein zu waschen, um Macht auszuüben, um zu manipulieren. Auch das wissentliche Verschweigen, Verschleiern und Verdrehen von Tatsachen ist eine Art des Lügens. Tatsachen werden jedoch in der Politik als maßgeblich angesehen. Denn mit Tatsachen wird Politik gemacht. Tatsachen werden zitiert, wenn politische Entscheidung durchgesetzt werden sollen. Zum Beispiel: »Weil ein Militärputsch (Tatsache) stattgefunden hat, wird der Ausnahmezustand ausgerufen und die Verschärfung der Gesetze beschlossen (politische Konsequenz).« Ob der Militärputsch nur »getürkt« wurde, um dieses Ziel zu erreichen, steht dahin.

Weil Diesel die Umwelt belastet und zum Anstieg des CO2-Gehaltes beiträgt (Tatsache), müssen die vielen Dieselauto-Fahrer zur Kasse gebeten werden (klimapolitische Konsequenz). Im Rahmen dieser Maßnahmen wird nicht bedacht oder gar hinreichend geregelt, dass die Kreuzfahrtschiffe einen weitaus schlimmeren Einfluss auf das Klima haben, als die Dieselfahrer. Politik wird auch gemacht unter der Nichtberücksichtigung von Tatsachen. Ereignisse werden nicht zur Kenntnis genommen oder Tatsachen, die bekannt sind, werden in ihrer Auswirkung unterschätzt. Es ist oft schwer zu entscheiden, ob dies wissentlich oder aus Blindheit geschieht.

Obgleich wir ja heute an Informationen ersticken, fehlen Informationen wie auch klare und verbindliche Maßstäbe, um darüber zu entscheiden: Wurde bewusst etwas unter den Tisch fallen gelassen und damit gelogen – oder unwissentlich? Was wäre nun schärfer zu verurteilen?

Um diese Frage zu beantworten, greift Hannah Ahrendt auf Platon zurück. Dieser unterschied zwischen den Sophisten, die sich irren können, und den Ignoranten, die wie Platon schreibt, »sich mit schweinischem Behagen im Schmutz der Unwissenheit herumwälzen«. Das rekurriert auf die berühmte platonische Frage: Sind diejenigen schwerer zu verurteilen, die bewusst lügen oder die aus Blödheit lügen?

Für Platon ist die Antwort klar: Blödheit ist strafbarer. Für ihn war dies noch ein individuell zu behandelndes Thema. Platon konnte nicht ahnen, dass es in den modernen Zeiten ein organisiertes, öffentliches Lügen geben würde, wie Hannah Ahrendt es nennt und hinzufügt: dazu sei in der Neuzeit »unter dem Druck der modernen Wissenschaft die Wahrheit zu einer Kardinaltugend« erklärt worden.

In Anbetracht dieser Überlegungen stehen wir vor einem interessengeleiteten Paradoxon: Der Wahrheitsanspruch gilt heute einerseits mehr als zuvor. Andererseits ist Wahrheit nicht gefragt, sobald sie unbequem wird. Konkret heißt das: Die wissentlich ausgesprochene politische Lüge wird heute natürlich geahndet. Und jeder Politiker sollte sich davor hüten, die Unwahrheit zu sagen, wie mir neulich ein befreundeter Pressesprecher erklärte. Die Recherche- und Überprüfungsmöglichkeiten seien heute so immens, dass jede Lüge auffliegt. Ob dies tatsächlich so ist, sei dahingestellt.

Das unbemerkte Lügen durch Unwissenheit hingegen wird auf beiden Seiten – der Politik wie der Öffentlichkeit – hingenommen – aufgrund des Mangels an Kenntnissen, des Verzichtes auf Kritik- und Urteilsfähigkeit, sowie aufgrund der Verwechslung zwischen Tatsachen und Meinungen. Verbunden ist dieser Vorgang mit dem bereits erwähnten modischen und flauen Argument, es gäbe keine allgemein gültigen Wahrheiten.

Was haben Meinungen mit Tatsachen zu tun?

Wir stehen heute auch vor der Frage, welche unerkannten Lügen durch die Medien und das Internet verbreitet werden, mit denen ebenfalls Politik gemacht wird. Gelogen wird dann hier nicht auf der Basis eines verbrieften Wissens. Aus Ahnungslosigkeit, Machthunger, Wut, Hass, Selbstdarstellungssucht werden Dinge behauptet, die falsch, unwahr, unüberprüft oder gar nicht überprüfbar sind. Es handelt sich um subjektive Meinungen, die von niemanden in Frage gestellt werden.

Diese subjektiven Meinungen können einen Cloud-Charakter bekommen. Eine Meinungswolke entsteht, die den politischen Diskurs und die öffentliche Stimmung überschattet und beeinflusst. Das alles geschieht in einer Gesellschaft, die auf Meinungsfreiheit pocht, ohne zu überprüfen, ob eine Meinung etwas taugt. Wahrheit, der Maßstab für Wahrhaftigkeit, spielt selten eine Rolle. Tatsachen, die eine Meinung begründen, ebenso wenig. Stattdessen steht nur eine Meinung gegen die andere. Selten genug basieren sie auf einer Tatsache oder Vernunftwahrheiten. Ist dies der Fall, werden Meinungen zum »Bullshit«, wie der Philosoph Harry Frankfurt dieses leere Gerede nennt.

Dass Meinungen ohne Wahrheitsgehalt und ohne Tatsachenbewusstsein zu einer menschenverachtenden Politik führen können, haben wir ja im Nationalsozialismus vorgeführt bekommen. Ahrendt schreibt: »Unbequeme geschichtliche Tatbestände, wie dass die Hitlerherrschaft von einer Mehrheit des deutschen Volkes unterstützt oder dass Frankreich im Jahr 1940 von Deutschland entscheidend besiegt wurde oder auch die profaschistische Politik des Vatikans im letzten Krieg, werden behandelt, als seien sie keine Tatsachen, sondern Dinge, über die man dieser oder jener Meinung sein könne.« Denken wir dies weiter: Durch die Verwischung von Tatsachen und Meinungen geht die »Wirklichkeit« verloren. Nicht das zählt, was wirklich passiert ist, sondern nur das, was darüber gesagt wird. Und ob das, was gesagt wird, stimmt, richtig und wahrhaftig ist, hat keine Bedeutung.

Wenn Fakten jedoch keine Bedeutung haben, entsteht im öffentlichen Raum eine Art Fiktion, eine Bodenlosigkeit, ein Werteverlust und ein Orientierungsproblem, all das, was auch das Misstrauen der Politik gegenüber nährt und stützt. »Was hier auf dem Spiel steht«, so Ahrendt, »ist die faktische Wirklichkeit selbst … die Öffentlichkeit wird nicht von bewusster Fälschung und organisierten Lügen, sondern von ‚Ansichten‘ bedroht…«.

In der Schärfe dieses Konfliktes liegt, wie Ahrendt es bezeichnet, ein weiterer Konflikt in Sachen Meinung. Dieser korrespondiert heute mit einem blinden Vertrauen in die Statistik. Auf Statistiken werden nicht nur öffentliche Meinungen begründet, sondern es wird mit ihnen Politik gemacht. Auch hier fehlt Kritik und Methodenwissen. Denn jede Statistik erfasst nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit und liefert die Ergebnisse, die der Fragestellung der statistischen Erhebung und den Interessen der Auftraggeber entsprechen. Hier besteht durchaus die Gefahr, die komplexe Realität mit einem dürren, oft wenig aussagefähigen Zahlenwerk zu verwechseln, weil der wissende und kritische, ja auch philosophische unabhängige Blick auf Zusammenhänge fehlt.

Garantiert Meinungsfreiheit auch eine vernünftige Gesellschaft?

Diese Kritik an einer Meinungsbildung ohne Grund und Boden steht im Kontrast zu dem demokratischen Prinzip der Meinungsfreiheit. Jeder darf mitreden. Meinungsfreiheit ist wie ein Garant für Demokratie. Natürlich stimmt das. Meinungsvielfalt spiegelt die Vielfalt der Gesellschaft und ist der Ausdruck für Gleichberechtigung.

Abgesehen davon, kann Politik ohne Meinungen gar nicht gemacht werden, wie Ahrendt betont. Ein Faktum, das das Meinungsproblem noch zuspitzt. Ein demokratischer Staatsmann kann nur dann Macht ausüben, wenn er von denjenigen unterstützt wird, die seiner Meinung sind. Selbst in Diktaturen gilt dieser Satz, wie es Deutschland zur Nazizeit, Russland zur Zeit Stalins, China zur Zeit Maos gezeigt hat. Gefolgsleute gab es genug.

Die Freiheit, Meinungen vertreten zu können, hat jedoch einen weiteren interessanten wie wichtigen Aspekt, den die Philosophin Ahrendt mit einem Zitat von Immanuel Kant ins Spiel bringt: »Da die Vernunft nicht unfehlbar ist, kann sie nur funktionieren, wenn die Freiheit besteht, von ihr in allen Stücken öffentlich Gebrauch zu machen und ihre Resultate vor dem ganzen Publikum der Leserwelt bekanntzugeben.«

Denken wir diesen kantischen Gedanken weiter: Durch Meinungsfreiheit würde sich dann – Platon zufolge – das Vernünftige herauskristallisieren. Dieser hoffnungsfrohe Gedanke Kants wiederum baut auf der Annahme auf, eine freie Gesellschaft sei dazu fähig, sich selbst vernünftig zu regeln – zumindest à la longue.

Mir fallen dazu die Erkenntnisse der beiden chilenischen Wissenschaftler Manturana und Varela über die selbstorganisierenden Systeme ein: Freie lebendige Systeme regulieren sich selbst und bleiben so – durch den Wandel – im Gleichgewicht. Ein vielleicht nicht ganz passendes Beispiel aus der Natur: So findet in einem Fischteich diese natürliche Selbstorganisation statt. Die kleinen Fische werden so lange von den großen Fischen gefressen, bis kaum noch welche zum Fressen verfügbar sind. Dann vermindert sich die Anzahl der großen Fische, weil diese nicht mehr genug zu fressen bekommen. Darauf folgt, dass die kleinen Fische sich wieder vermehren, weil es nicht so viele große Fische gibt, die die kleinen fressen. Und so weiter und so weiter. Aber können wir darauf vertrauen, dass dieser natürliche Wandel von Fressen und Gefressenwerden, um der Balance willen, auch so ähnlich in der menschlichen Gesellschaft stattfindet? Können wir darauf hoffen, dass Gewalt und Frieden, Unvernunft und Vernunft, sich ohne ethisch motiviertes Eingreifen zum Wohle aller von selbst abwechseln und regeln?

So ganz wird dies nicht funktionieren. Aus einem einfachen Grund: Fische können zwar viel, aber sie können nicht denken wie ein Mensch. Und wenn ein Mensch mit dem Denken aufhört, ist er kein Fisch, sondern nur ein gedankenloser, funktionierender Sozialautomat. Wenn wir uns also dazu entscheiden sollten, der Meinungsfreiheit als vernünftiges Regulationsprinzip zu vertrauen, müssten wir dementsprechend auch in die menschliche Vernunft vertrauen. Eine Vernunft, die nicht zu menschenverachtenden Handlungen missbraucht wird.

Die Wirkungskraft der Philosophie

Diese Art der Vernunft setzt viel voraus: die Fähigkeit, klar zu denken, sich auf Tatsachen zu beziehen, Denkgrenzen zu überschreiten, unbestechlich zu bleiben und sich nicht missbrauchen zu lassen – weder von der Politik noch von der Wirtschaft. Dass dieser grundsätzlich möglichen Vernunftfähigkeit des Menschen die Irrationalität und die Triebhaftigkeit kontrastreich gegenübersteht, haben wir spätestens seit Sigmund Freuds Zentralaussage »Wir sind nicht Herr im eigenen Haus« verstanden. Dieses Faktum erklärt, warum Vernunft in Wirtschaft und Politik so selten zum Tragen kommt.

Doch damit ist nicht aller Tage Abend. Hannah Ahrendt selbst war es, die diesen Qualitäten eines vernünftigen Denkens entsprach. Sie sah die politischen Ereignisse von außen und mischte sich durch ihre Analysen ein. Sie war politisch, machte aber keine Politik. Sie war bis zum Eigensinn unbeirrbar im Wissen und im Vertrauen an die Richtigkeit ihrer Beobachtungen und Deutungen. Sie tat all das selbst, was sie von den Philosophen verlangte: Unabhängig und integer zu denken und die negativen Folgen dieser Haltung in Kauf zu nehmen.

Die Unabhängigkeit ist eine entscheidende Voraussetzung für diese Vernunft: Denn wer vor allem und überhaupt im Namen von Interessen und Macht spricht, ist nicht mehr glaubwürdig. Insofern sei jeder philosophisch denkende Mensch, jeder Wissenschaftler dazu herausgefordert, sagt Ahrendt, sich in den Dienst der Wahrheit und der Tatsachen zu stellen und nicht in den Dienst der Politik. Und des Kapitals, füge ich hinzu. Denn jeder Denkauftrag vonseiten der Macht beeinflusst und steuert den Blick – und verdirbt ihn im ärgsten Fall. Es sei denn, diejenigen, die denken und diejenigen die Macht und Geld haben, teilen ein gemeinsames Gewissen und eine gemeinsame Ethik.

Wie man beschaffen sein muss, um ein wahrhafter philosophischer Mensch zu werden

Philosophinnen – die es ja selten genug gibt – fallen nicht einfach vom Himmel und fangen dann an zu denken, wenn sie Abitur gemacht haben. Viele Faktoren müssen zusammenkommen, damit sich ein Mensch zu einem freien, unbestechlichen geistigen Wesen entwickelt: Wissen, hohe Intelligenz, Mut, Durchhaltevermögen und Kompromisslosigkeit.

Die Lebensgeschichte Hannah Ahrendts gibt Auskunft darüber, wie und warum sie über solche Fähigkeiten verfügte. Sie wuchs auf in einer gebildeten, wohlhabenden, linksliberalen, unorthodoxen jüdischen Familie Als sie noch ein Kind war, starb ihr Vater. Ihre Mutter, Martha Ahrendt, gehörte zu den gebildeten Frauen, die auf dem neuesten Stand der Kinderpsychologie und -erziehung waren. Sie führte ein sorgfältig angelegtes Tagebuch über Hannahs kindliche Entwicklung.

Schon früh zeigte sich für die Mutter, wie intelligent und eigensinnig das vaterlose Mädchen war. Bedingungslos stand sie zu ihrer Tochter – sogar dann, wenn Hannah Verhaltensweisen an den Tag legte, die nicht comme il faut waren. Hannah bekam als Kind eine wichtige Regel von ihrer Mutter mit auf den Weg: »Verteidige Dich selbst, wenn Du als Jüdin von Gleichaltrigen angegriffen wirst. Und ich verteidige Dich, wenn Du in dieser Hinsicht von Erwachsenen angegriffen wirst.« Damit war früh klar, dass die Opferrolle nicht in das Lebensprogramm Hannah Ahrendts passte.

Mit unbändiger Neugier und Lesewut verbrachte das empfindliche Kind, in Gesellschaft mit Familienmitgliedern und Freunden, seine Kindheit. Nach dem Abitur studierte Hannah Ahrendt Philosophie, Theologie und Griechisch in Marburg bei Heidegger und Bultmann. Ihre Liebesbeziehung zu Heidegger hatte jahrelang komplizierte Auswirkungen. Nach dem Wechsel an die Heidelberger Universität lernte sie den Psychiater und Philosophen Karl Jaspers und den Zionisten Kurt Blumenfeld kennen, Männer, mit denen sie lebenslang verbunden war. Sie heiratete den Schriftsteller Günter Stern, der sich Günter Anders nannte.

Als junge Frau war sie zu Beginn der Nazizeit in einer zionistischen Untergrundorganisation tätig, wurde verhaftet und konnte nach Frankreich fliehen. Dort wurde sie, nach der Scheidung von Günter Anders und der Begegnung und Heirat mit dem Kommunisten und Autodidakten Heinrich Blücher, im Frauenlager Gurs in Südfrankreich interniert. Mit viel Glück entkam sie mit ihrem Mann, den sie zufällig in Montauban nach ihrer Flucht aus dem Lager traf, nach Amerika. Durch die Erfahrungen als verfolgte Jüdin und durch ein politisches Erwachen wurde aus der ehemals politisch naiven Philosophin ein politisch denkender Kopf.

Ihr Buch »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« erschien erstmals 1951. Es war ein Schlüsselwerk. Mit diesem Buch wurde sie berühmt. Und weil sie berühmt war, wurde ihrer Bitte von der Zeitschrift The New Yorker entsprochen, in Jerusalem über den Eichmann-Prozess zu berichten. Auf ihre eigenen leidvollen Erfahrungen nahm sie in ihren Veröffentlichungen nie Bezug. Das Private war für sie zeitlebens streng vom Öffentlichen getrennt. Umfassende Bildung, der bedingungsloser Rückhalt vonseiten ihrer Mutter, Neugier, Eigensinn, Qualitätsbewusstsein, Freundschaften mit bedeutenden Denkern und verlässlichen Gefährten sowie eine gute Ehe waren die Voraussetzungen dafür, unbestechlich und kompromisslos zu bleiben. Liebe, Freundschaft, Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft verbanden sich bei ihr mit der Fähigkeit, scharfen Angriffen harsch zu widerstehen und sich von niemanden und nichts etwas sagen zu lassen.

So ein Leben kann man sich nicht herbeizaubern. Es war ein Leben voller Gefahren, Aufbrüche, Angriffe, Bewunderungen und Anstrengungen. Philosophisches Wahrheitswissen und Standvermögen bekommt man nicht umsonst. Wie auch die Einsicht, mit der Ahrendt ihren Beitrag »Wahrheit und Politik« beendet: »Denn worum es in diesen Betrachtungen geht, ist zu zeigen, dass dieser Raum trotz seiner Größe begrenzt ist, dass er nicht die Gesamtheit der menschlichen Existenz und auch nicht die Gesamtheit dessen umfasst, was in der Welt vorkommt. Was ihn begrenzt, sind die Dinge, die Menschen nicht ändern können, die ihrer Macht entzogen sind und die nur durch lügenden Selbstbetrug zum zeitweiligen Verschwinden gebracht werden können. Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren und das ihr inhärente Versprechen, dass Menschen die Welt ändern können, nur einlösen, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen entzogen sind, respektiert. Wahrheit könnte man begrifflich definieren als das, was der Mensch nicht ändern kann; metaphorisch gesprochen ist sie der Grund, auf dem wir stehen, und der Himmel, der sich über uns erstreckt.«

Dieser Satz berührt zutiefst. Denn er verweist darauf, dass wir auf etwas bauen können, das größer ist als wir. Und wir können damit an einen Gedanken anknüpfen, den kürzlich ein Wissenschaftler in Sachen Klimawandel geäußert hat: Es geht darum, ein gemeinschaftsstiftendes Weltethos verpflichtend für alle Nationen werden zu lassen, um den Planeten nicht weiter mutwillig zu zerstören.

Dr. Barbara Strohschein
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Dr. Barbara Strohschein, ist Beiratsmitglied von Glocalist, Philosophin, Autorin (u.a. Suhrkamp) und Expertin in Ethik, Werte und soziale Innovation. Zahlreiche Wissenschaftsprojekte.

Aktuell: „Argumentationsmuster von Klimaskeptikern“ in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Flader, gefördert von der DBU, SHR-Hochschule Berlin.

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